06 Okt Scham und Würde
Auszüge aus: Magazin Nr. 101/ Frühling 2017: „Thema: „Sucht und Scham“
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es. Dies ist eine Feststellung und Aufforderung zugleich. Die Würde des Menschen ist tatsächlich etwas, das ihm nicht genommen werden kann. Gleichzeitig wird sie jederzeit in vielfältiger Weise verletzt oder bedroht – das heißt eigentlich, ihr nicht entsprochen. Und das betrifft nicht nur die Würde der anderen Menschen, sondern auch den Umgang des Menschen mit sich selbst. Ich kann auch mit mir selbst unwürdig umgehen.
Der Philosoph Immanuel Kant hat die „Würde des Menschen“ versucht zu definieren. Er geht davon aus, dass der Mensch ein Zweck an sich sei und demnach nicht bloß einem ihm fremden Zweck unterworfen werden darf. Das heißt: Die Menschenwürde wird verletzt, wenn ein Mensch einen anderen bloß als Mittel für seine eigenen Zwecke benutzt.
Ein Mensch darf einen anderen nicht bloß als Mittel für seine eigenen Zwecke benutzen
Vor diesem Hintergrund ist auch die schöne Feststellung des deutschen Philosophen Robert Spaemann zu verstehen: „Wer auf die Frage, warum er diesen Menschen liebt, eine Antwort geben kann, der liebt noch nicht wirklich. Man liebt eben einen Menschen, kein Bündel von Eigenschaften. Und doch können wir Merkmale nennen, die wir an der geliebten Person besonders mögen: ihre Herzensgüte, ihr Lachen, ihre Impulsivität zum Beispiel. Die Frage ist: Lieben wir sie wirklich deswegen? Oder würden wir sie auch lieben, wenn sie sich verändern und diese Eigenschaften verlieren würde?“ Ein einfaches Gedankenexperiment zeigt, dass wir, wenn wir lieben, mehr an der Person – der Trägerin von Würde – interessiert sind als an ihren Eigenschaften: Stellen Sie sich vor, ein Zauberer könnte eine exakte Kopie, einen Menschen erschaffen, der alle Eigenschaften trägt, die Sie an Ihrem geliebten Menschen schätzen (und womöglich angereichert mit zusätzlichen positiven Eigenschaften). Würden Sie tauschen wollen? Wohl kaum. Denn, was wir letztlich wollen und mit der Zeit lieben lernen ist etwas eigentlich „Unsichtbares“, Einzigartiges, eine bestimmte Person.
„Scham“ hat mehrere Bedeutungen
1: Scham und Schuld
Der Begriff „Scham“ ist mehrdeutig und in seinen Bedeutungen widersprüchlich. Er steht als solcher in einem Spannungsfeld mit dem Begriff der „Würde“, da „Scham“ im Zusammenhang mit Erniedrigung, Degradierung, Demütigung und Entwürdigung auftreten kann.
Dennoch: Scham im Sinne von „ich schäme mich, dass ich…“ beschreibt auch etwas Anderes: es beschreibt das Gefühl des Makels, das Gefühl einer Schuld oder das Gefühl, den eigenen Ansprüchen nicht entsprochen zu haben. Scham in diesem Kontext ist umfassender als „Schuld“. Sie beschreibt das Gefühl eines schuldbewussten, schmerzlichen Blickes auf sich selbst, eines Blickes, dem sich ein Mensch manchmal am liebsten entziehen möchte. Scham kann einen Lernprozess anstoßen, sich zu sehen und anzunehmen wie man ist, aber auch Impulse für eine Weiterentwicklung geben, eine Aufforderung, Dinge anders oder besser zu machen. – Scham kann als solche aber auch das Gegenteil hervorrufen: eine Quelle von Verdrängung, Abspaltung und Nicht-Sehen-Wollen sein. Und wo das Sich-Schämen den Selbstwert herabsetzt kann es auch destruktiv werden. In allen Fällen aber gilt: ein „ich schäme mich, dass ich…“ ist nur für ein Wesen möglich, das sich selbst als „frei“ und „verantwortlich“, als nicht mehr nur reagierendes oder abreagierendes, sondern auch agierendes, gestaltendes Wesen versteht. Diese Begriffe aber sind untrennbar mit dem Begriff der „Menschenwürde“ verbunden.
2: Scham und Würde
Die Scham hat aber auch eine andere Bedeutung. Sie beschreibt das „Schamgefühl“, das Adam und Eva nach dem Essen der verbotenen Frucht überkam („Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz; Gen 3,7). In diesem Kontext beschreibt sie eine für die menschliche Person charakteristische Tendenz, sich zu verbergen, als Selbstschutz davor, von anderen Menschen auf bestimmte Eigenschaften reduziert oder als Objekt gebraucht zu werden. Wenn sich Menschen hingegen in Liebe und Vertrauen begegnen, sich einander sozusagen „Objekt der Liebe“ werden, schwindet diese Scham. – Scham in dieser Bedeutung bewacht unsere menschliche Würde. Sie möchte den Menschen vor entwürdigendem Verhalten, Situationen und Blicken schützen, besonders während ihrer fragilen Entwicklung. Sie dient, besonders dem Schutz vor Bloßstellungen, vor Ein- und Übergriffen, welche die Integrität der Person bedrohen können.
Die Würde eines Menschen ist aber niemals von der eigenen Selbstachtung oder der Achtung anderer Menschen abhängig. Die Würde ist unantastbar und kann nicht verloren gehen. Darüber hinaus würdigt sich ein Mensch (d.h. eigentlich: entspricht seiner Würde), wenn er nicht denkt, etwas leisten zu müssen um liebenswürdig zu sein.
- Scham und Würde - 6. Oktober 2021