
19 Juli Pubertät – Mimose und Kaktus
„Pubertät“ – wie ein Damoklesschwert droht dieses Wort über Familien mit Kindern ab 10 Jahren, von manchen Eltern gefürchtet wie ein emotionaler Tsunami. Beeinflusst durch Geschichten anderer Eltern, die in Anekdoten über plötzliche hereinbrechende Wesensänderungen ihrer bis dahin lieben, pflegeleichten Kinder wahre Horrorerlebnisse zu berichten wissen, möchte man diese Epoche der Kindesentwicklung gern in ein verstaubtes Eck schieben, wo sie bitte möglichst nie herausspringen möge.
Während der Ausdruck „Teenager“ geradezu liebevoll klingt, sieht man bei dem Ausdruck „Pubertierender“ klischeehaft das Gesicht eines gelangweilten Halbwüchsigen vor sich: eine Kapuzenpulli-tragendende, verpickelte wandelnde Hormonbombe, die in Converse Chucks durch die Welt schlurfend sich von der Außenwelt abschirmt, indem die Handykopfhörer als eine Nabelschnur zum Lebenselixier Musik fungieren.
Vor dem inneren Auge erscheint ein junger Mensch, dem zwar „eigentlich eh alles egal“ ist, der aber dann blitzschnell fähig ist, kritische und messerscharfe Aussagen zu treffen, die wie kaltes Wasser der legendären Ice-Bucket Challenge über den Kopf der Eltern und der Gesellschaft ausgeschüttet werden.
In erbarmungsloser Ehrlichkeit halten sie Erwachsenen einen Spiegel vor, zeigen dabei Wahrheiten, die man so treffend auf den Punkt gebracht gar nicht sehen will. Umgekehrt kann derselbe Jugendliche aber sehr sensibel (über)reagieren, wenn auch nur eine leiseste Kritik an seiner Person wahrgenommen wird.
Natürlich Ist diese Darstellungen sehr überspitzt und in hoffentlich in keiner Familie tatsächlich realer Dauerzustand; „Die Kunst, einen Kaktus zu umarmen“ – der Untertitel eines Buches über diese Lebensphase voller Umbrüche trifft die Herausforderung von Nähe und Distanz im Teeniealter aber sehr gut („Und plötzlich sind sie 13 oder: Die Kunst, einen Kaktus zu umarmen. So begleiten Sie Ihr Kind durch die Teenagerzeit“ von Claudia Arp und David Arp)
It´s „flower power time“ – Kaktus und Mimose lassen grüßen
Kaktus und Mimose – diese Pflanzen als Bild für Teenies halte ich für treffend. Durch körperliche Veränderungen, starke Stimmungsschwankungen und plötzlich auftretende neue Gefühle fürs andere Geschlecht sind sie wahrlich aus der gewohnten Bahn geworfen.
Wie ein Kaktus in der Wüste fühlen sie sich einsam und unverstanden, bündeln ihre Energie nach innen und legen zum Schutz vor Angriffen ihres verletzlichen Inneren ein stacheliges Verhalten an den Tag. So wie ein Kaktus nur selten blüht, ergeben sich nun viel seltener jene kostbaren Momente echter Nähe und Offenheit, in denen Jugendliche Eltern ihr Herz und ihre Seele so öffnen, wie sie es als Kind zu tun gewohnt waren.
Wie eine Mimose, die sensible auf Erschütterung, Berührung, Temperaturveränderung – genaugenommen auf eigentlich jeden Einfluss von außen – mit Einklappen der beleidigten Bereiche reagiert, sieht auch ein Teenager manchmal keine Alternative als allein den inneren Totalrückzug. Und doch brauchen gerade diese jungen Menschen in ihrer inneren Zerrissenheit die Sicherheit, bedingungslos geliebt zu sein – und das mindestens genauso wie in der für Eltern manchmal pflegeleichteren Entwicklungsphasen der früheren Kindheit.
Regeln auf dem Prüfstand
Eltern stehen nun vor der Herausforderung, hinter die gelangweilte und aufmüpfige Fassade ihres Sohnes oder ihrer Tochter auf das unruhige Herz ihres Kindes zu sehen. Wenn Grenzen ausgetestet, ja oft überschritten werden, die Wogen in der Familie hochgehen, dann liegt es an den Eltern, ein Fels in der Brandung zu bleiben und Sicherheit zu vermitteln. Pauschale Lebensregeln werden nun nicht mehr hingenommen, sondern auf Mark und Bein geprüft: „Mama, Papa: Lebst du das, was du predigst? Bist du wahrhaftig?“, diese Worte springen einem aus den Augen der Teenies geradezu entgegen.
„Halt mich fest und gib mich frei“ – so lautet die Überschrift zum Kapitel für 12 bis 16 Jahre im sehr empfehlenswerten Buch von Regula Lehmann, „Sexualerziehung? Familiensache“. Durch den Prozess des Erwachsenwerdens findet eine schrittweise Loslösung statt, ein Prozess, der bei aller Notwendigkeit auch schmerzhaft ist, weil er Abschied von der Kindheit bedeutet. Für beide Seiten! Eltern müssen dem Kind nun zutrauen, dass es eigene Entscheidungen treffen und dafür Verantwortung übernehmen kann.
Wie helfe ich meinem Kind, sich selbst zu helfen?
- Ernst nehmen und annehmen: das zeigt sich auch durch Interesse an den jetzt so wichtigen Freunden des Kindes. Diese Peergroups prägen sowohl positiv als auch negativ, es ist daher gut, ein offenes Herz für sie zu haben.
- Führen und Loslassen: im Sinne der Devise: Soviel Freiheit wie möglich, so viele Grenzen wie notwendig. Elterliches Nörgeln ist dabei eher kontraproduktiv, gefragt ist hingegen spürbar wohlwollende Unterstützung dort, wo der Jugendliche einen sicheren Rahmen benötigt.
- Alltagsstuktur und Freizeitgestaltung: Teenager haben ein hohes Schlafbedürfnis und sind schnell erschöpft, oft würden sie gern den ganzen Tag verschlafen. Wertvoll ist jetzt jede Unterstützung für sinnvolle, fröhliche Unternehmungen, Förderung von Sport und schönen gemeinsamen Erlebnissen, die der Seele Kraft spenden. Achtung: Gemotze im Vorfeld ist vermutlich trotzdem zu erwarten. 😉
- Ermutigung und Bestätigung: Auch echte Komplimente, allerdings ernst gemeint und nicht pauschal. „Dein neuer Pulli passt gut zu Deinen schönen grünen Augen, das lässt Dein Gesicht so strahlen“ ist sicher persönlicher als: „Fesches Gwand“. Oder „Mir gefällt, wie Du Deine Meinung in Ruhe vertreten hast, obwohl Du auf Gegenwind gestoßen bist“ Da Teenager sich selbst und das Umfeld immer abscannen ob sie „gefallen, in Ordnung sind, ok sind“, geben kleine Nettigkeiten im Alltag den nötigen Halt für die Außenwelt und sind identitätsstiftend.
Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Es macht daher gar nichts, wenn es im Gespräch mit Eltern und Jugendlichen mal laut wird oder dabei Vorwürfe kommen, es gibt auch sicher kein allgemeines „Kochrezept“ für den Umgang mit Kindern in der Pubertät.
Auch umgekehrt gibt es auch kein solches für die Jugendlichen gegenüber den Eltern, so individuell wie die Menschen sind, ist es auch in jeder Familie anders, was hilft. Aber: solange man sich um gegenseitigen Respekt bemüht, einander wertschätzt und immer wieder auch ehrliche Entschuldigungen ausgesprochen werden, das „wir“ im Zentrum steht, geht der Weg weiter.
Hilfreich kann in stürmischen Zeiten auch eine unterstützende Begleitung durch eine Familienberatung sein – es gibt dazu ein vielfältiges Beratungsangebot, z. B. für Wien am Institut für Ehe und Familie
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