22 Nov IEF-Gespräch mit Mag. Brigitte Schmid, Leiterin des Bereichs Beratung
Mag. Brigitte Schmid im Gespräch
„Du bist total toxisch“
Warum die Jugend heute genauer hinsehen muss und diese Begriffe nicht vorschnell benutzen soll. Und warum unsere Teens dennoch für dieses Thema sensibilisiert werden müssen, wovor sie sich selbst schützen können, und wie Eltern und die Gesellschaft dabei Unterstützung bieten sollen…
IEF: Der Begriff „toxische Beziehung“ wird nunmehr inflationär verwendet. Was bedeutet dieser eigentlich?
BS: Interessant ist, dass seit der Pandemie die Clickbaits auf Google zum Begriff „toxische Beziehung“ rasant gestiegen sind. Man erkennt, dass dieses Thema, gerade unter Jugendlichen, besonders gefragt ist. Daher ist eine genaue Beschreibung dieser Terminologie notwendig! „Toxisch“ stammt vom Altgriechischen „toxon“ ab und deutet auf die giftigen Pfeilspitzen eines Bogens hin. Dieser Begriff hat dann Einzug in vielen Bereichen gehalten, lange schon in der Medizin, wo von toxischen Substanzen gesprochen wird, wenn diese Gifte oder Schadstoffe enthalten. In den letzten Jahren hat dieser Ausdruck die Psychologie und klinische Psychiatrie erobert, besonders jene Bereiche, wo von „toxisch dysfunktionalen Beziehungen“ und ihren Folgen gesprochen wird. Heute spricht die Jugend, auch durch Social Media gepushed, viel zu schnell von „toxischen Beziehungen“ und meint damit meist, dass zwei Menschen sich viel streiten. Eine wirkliche „toxische Beziehung“ geht hier aber viel tiefer. Man muss unterscheiden können, wann Charakterzüge eines Menschen so massiv beeinträchtigend für den oder die Andere/n sind, dass diese physisch und psychisch krankmachen und Abgrenzung nötig wird.
IEF: Welche Charaktereigenschaften fallen hier typischerweise darunter?
BS: Es gibt hier Merkmale, die sich überproportional wiederholen. So sehr der Beginn einer Liebesbeziehung wunderschön sein sollte, so schnell kann auch eine anscheinend gesunde Beziehung in eine toxische Abhängigkeit kippen. Und hier kommt schon ein wichtiges Element ins Spiel: Abhängigkeit. Oft bemerkt das Opfer einer „toxisch dysfunktionalen Beziehung“ gar nicht, wie übertriebenes ‚Lovebombing‘ ausgeübt wird; oder im Fall einer nicht partnerschaftlichen Freundschaft übermäßig viele Geschenke oder Komplimente, gemacht werden. Man merkt nicht, dass Manipulation im Gang ist. Erst wenn außergewöhnlich viel Aufmerksamkeit und Fürsorge plötzlich von massiver Abwertung bis hin zu körperlicher Gewalt abgewechselt werden, und oft auch über lange Zeiträume hinweg, dann spricht man von einer „toxischer Verhaltensweise“. Dem liegt meist eine narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) zugrunde. Meist wird das Opfer ebenfalls systemisch überzeugt sein, dass es „immer an den/die Falsche/n“ kommt. Das narzisstische und auch das Opfer Element sind meist schon in der Kindheit eingeübte Muster, die sich bis in die Jugend und in die Erwachsenenalter weiterziehen. Beide bedingen einander.
IEF: Verkürzt kann man also sagen: pathologischer Narzissmus und pathologische Opferhaltung formen die Grundlagen für eine mögliche „toxisch dysfunktionale Beziehung“. Wie verhält sich die „toxische Persönlichkeit“ gegenüber der Familie des Partners oder gegenüber Freunden oder anderen im sozialen Umfeld?
BS: Typischerweise tun sich diese Personen schwer damit, die Kontrolle zu verlieren. Meist wird – bewusst oder unbewusst – manipuliert, isoliert und abgeschottet. Das Umfeld kann diese Entwicklung erkennen, das Opfer meist lange nicht. Hochphasen einer „toxisch dysfunktionalen Beziehung“ sind allerdings oft dennoch sehr fruchtbar. Das Opfer fühlt sich durch den, vom Partner entwickelten, Elan und die daraus resultierende Kreativität, die Aufmerksamkeit, die oft im Außen entstehende Dynamik, aufgewertet. In diesen Zeiten werden z. B. gemeinsam Startups gegründet, es werden viele Reisen gemacht oder Projekte erfolgreich beendet. Allerdings sind diese Hochphasen dann jäh vorbei. Und das Opfer wird komplett entwertet, isoliert und kontrolliert. Dieser Kreislauf ist extrem schwer zu durchbrechen. Zudem ziehen sich ja bekanntlich Gegensätze an. Unsere Arbeit in der Beratung des IEF hat daher viel mit Empowering und Selbstwerttraining zu tun. Und schließlich haben wir eben alle Charaktereigenschaften aus der sogenannten „dunklen Triade“ (Machiavellismus, Psychopathie, Narzissmus); wie stark diese einzeln und gemeinsam ausgeprägt sind, das entscheidet über die Neigung zur NPS. Es geht hier tatsächlich um das Gleichgewicht der Kräfte. Bis zu einem gewissen Grad sind diese Merkmale eben auch Freundschafts- und Partnerschaftsmotoren, ja sogar Wirtschafts- und Gesellschaftsantrieb.
IEF: Wann kippt eine Dynamik dann endgültig auf die „toxisch dysfunktionale Seite“?
Sobald die individuelle Freiheit eines Menschen in einer Beziehung massiv eingeschränkt wird und diese Unfreiheit mit Zwang durchgesetzt und eingefordert wird, sprechen wir von einer „toxisch dysfunktionalen Beziehung“. Diese kann schon in jungen Jahren unter Freunden erfahren werden. So sehr diese Begriffe heute aber zu leichtfertig verwendet werden, so sehr kann auch positive Bewusstseinsbildung durch Eltern und Kinder erfolgen. Das sehe ich als eine gute Entwicklung. Früher stolperte man von einer Abhängigkeit in die nächste, einfach, weil man nicht über diese Themen sprach. Heute können Eltern und Kinder diese Themen verbalisieren und dadurch manche Fehler vermieden werden.
IEF: Wie kann man eine „gesunde Opferrolle“ definieren, gibt es das überhaupt?
BS: Wer gerne gibt und dies freiwillig, ohne jeglichen Zwang, der wird kein Opfer sein. Wie ein Sprichwort sagt: „Liebe setzt Freiheit voraus“. Dafür braucht es aber auch einen gesunden Selbstwert, der in unserer Arbeit, als Familienberatungsdienst, im Fokus steht. Wesentlich sind demnach die Freiwilligkeit und damit die Freiheit der Entscheidungsfähigkeit des Menschen. In einer „toxisch dysfunktionalen Beziehung“ sind diese Elemente zerstört. Aber nur, wenn die Entscheidungsfähigkeit eines Opfers wiederhergestellt ist, kann dieses Erkenntnis üben und damit beginnen, aus einer solchen Beziehung, und letztlich aus der Opferrolle, auszusteigen. Das ist im Grund der Kern unserer Beratungstätigkeit. Die Wiederherstellung des Selbstwert, die Erkenntnis der Situation, der Aufbau des Mutes sich aus negativen Beziehungen zu lösen, und damit die Wiedererlangung der eigenen Freiheit.
IEF: Gerade junge Menschen sind peerorientiert. Das Lösen aus einer freundschaftlichen oder partnerschaftlichen „toxischen dysfunktionalen Beziehung“ geht oft auch mit allgemeiner Ausgrenzung einher. Manchmal verliert der Teen dadurch nicht nur das „Gift“ in seinem Leben, sondern leider auch einen ganzen Freundeskreis dazu. Das macht die Abnabelung sicher schwieriger. Wie können Eltern hier helfen?
BS: Bekanntlich hören Jugendliche in der Pubertät ihren Eltern meist gar nicht mehr zu. Besonders in solch belastenden Zeiten, in denen sich die Kinder eher abgrenzen und „ausprobieren“ wollen, ist es wichtig, eine gute Begleitung, wie sie bei uns am IEF in der Beratung geboten wird, anzunehmen. Die Eltern können mit dem Teen kommen. Selbstverständlich kann der Teenager auch alleine zu uns kommen. Für Eltern selbst gilt: Geduld, Geduld, Geduld. Und das Vertrauen zu haben, dass der Same der Erziehung eines Tages aufgehen wird. Auch hier begleiten wir sehr gerne. Denn dies ist wirklich nicht einfach. In jedem Fall ist ganz wichtig: niemals sollten die Eltern das Gespräch mit dem Kind in der Krise vertagen, oder diesem ausweichen. Immer im Gespräch bleiben, auch wenn das schwierig sein mag! Eltern sollten sich gut überlegen, wie sie mit dem Teen sprechen können und wie sie auf Abweisung reagieren und Geduld üben können. Das kann durchaus sehr lange dauern. Wir sprechen hier von Fällen, die alleine nicht lösbar sind. Das Ziel unserer Tätigkeit in der Beratung ist meist der Ausstieg und immer die Persönlichkeitsentwicklung. Um ein biblisches Bild zu verwenden: manchmal müssen Weinreben beschnitten werden, damit sie besser wachsen können.
DSA Mag. Brigitte Schmid leitet seit 2022 den Beratungsdienst des IEF. Die Mutter von fünf Kindern ist Soziologin, Diplomsozialarbeiterin und anerkannte Beraterin des BM für Familie und Jugend nach dem Familienberatungsförderungsgesetz.
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