10 Sep IEF-Expertentalk: „Muss die Jugend so viele Psychopharmaka schlucken?“
Prof. Peter Stippl im Gespräch
Warum werden Jugendlichen immer mehr Psychopharmaka verschrieben, obwohl sie noch in einer sensiblen hormonellen und psycho-physischen Entwicklung stehen?
In unserem IEF-Expertentalk vom 14.3.2024 „Krisen Kriege Krankheiten-Was macht apokalyptisches Denken mit den Seelen unserer Kinder?“ machten wir schon auf die psychische Verfasstheit der Jugend in Österreich aufmerksam. Wir gehen nun einen Schritt weiter. Der ÖBVP (Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie) zeigte wiederholt auf, wie es um die Gesundheit der österreichischen Jugend 2024 steht. Das Vorstandmitglied, Prof. Peter Stippl, war kürzlich zum Gespräch am IEF zu Gast und hat sich mit uns über die aktuelle Frage unterhalten:
„Warum werden Jugendlichen immer mehr Psychopharmaka verschrieben, obwohl sie noch in einer sensiblen hormonellen und psycho-physischenEntwicklung stehen? Welche Ursachen sind hierfür zu nennen und welche Alternativen gibt es?“
IEF: Dieses Thema scheint ein ‚hot topic‘ zu sein. Viele Ihrer namhaften Kollegen und Kolleginnen der klinischen Psychiatrie haben uns dazu gratuliert, dieses Thema anzureißen. Sie haben uns einhellig gebeten, an diesem, wichtigen Thema dranzubleiben. Herr Prof. Stippl, wie ist hier der Stand der Dinge?
PS: Die Suizidraten unter Jugendlichen steigen seit der vom ÖBVP im September 2023 veröffentlichten Studie über die Belastungen der Kinder und Jugendlichen leider weiter – mehr unter Mädchen als unter Buben, wie wir aus der noch nicht veröffentlichten Datenlage wissen. Aber sie steigt eben leider an. Ebenso die notwendige Aufnahme in jugendpsychiatrische Kliniken. Über 45 Jugendliche haben sich seit vergangenem Herbst selbst getötet. Das ist nicht akzeptabel.
IEF: Welche Faktoren würden Sie hier als Hauptursachen sehen?
PS: Multistressoren sind hier am Werk. Einerseits sicher Spätfolgen von Covid. Aber auch die ökologische Weltsituation, die Kriegsschauplätze, Katastrophenszenarien und besonders der Trend zur Vereinsamung durch Handy- und Internetnutzung. Der gesunde Aggressionsabbau in der Gruppe, den die Jugend für ihre Entwicklung bräuchte, findet nicht mehr statt. Das ‚soziale praktische Lernen‘, in dem jeder Jugendliche seinen Platz in der Gesellschaft zu erobern sucht, fehlt. Besonders in der Stadt werden Kinder und Jugendliche eher ‚ruhiggestellt‘. Dabei ist ‚artgerechtes Aufwachsen‘, wenn ich das so nennen darf, für die gesunde Persönlichkeitsentwicklung des Menschen so wichtig.
IEF: Wo sehen Sie hier die Verantwortung der Eltern am Prüfstand?
PS: Wie wir in unserer Studie aufzeigen konnten, wird Frustrationstoleranz nicht mehr erlernt. Durch ‚Curling-‘ und ‚Helikopter‘-Verhalten werden den Kindern alle Hindernisse aus dem Weg geräumt. Dadurch können sie auch nicht ihren Platz in der Gruppe erkennen und einnehmen, wenn sie überhaupt in einer Gruppe, einer Peergroup, Anschluss finden. Viele Eltern lassen ihre Kinder heute schon nicht einmal mehr in den Sandkasten, da ihrem Schatz dort sonst Sandspielzeug weggenommen werden könnte. Für die Entwicklung des Kindes ist das fatal.
IEF: Sollten wir uns fragen, ob wir Eltern heute noch ausreichend Geduld und Muße für die Erziehung unserer Kinder aufbringen und ihnen dadurch genügend Zeit zur Entwicklung geben?
PS: Schon im Makrokosmos der Eltern ist heute Überlastung zu sehen. Empathie und Zeit werden knapp. Wer keine Oma oder Opa hat – um einen wichtigen Erziehungspfeiler in der Familie zu nennen – oder das Modell Großfamilie lebt, hat es wirklich schwer, Kinder zu verantwortungsvollen Erwachsenen großzuziehen. Die Großeltern, die auch bei Patchwork-Konstellationen oft fehlen, sind aber mit ihren Erfahrungen, ihrer Liebe, Geduld und Zeit, eine große Stütze für Eltern, die heute zunehmend in Vergessenheit gerät. Wenn kein Großelternteil vorhanden ist, so kann diese Rolle auch von einem nahen Verwandten oder Freund/Freundin der Familie ausgefüllt werden. Auch ich bin quasi „Leihopa“ für die Kinder eines Freundes, was mir große Freude macht. Wichtig aber ist: die Rolle des geduldigen, zuhörenden, fürsorglichen, achtsamen, Sicherheit schenkenden und, auch manchmal, abenteuerlustigen Großelternteils muss ausgefüllt werden, damit eine stabile Jugend und eine verantwortungsvolle Persönlichkeit reifen kann.
IEF: Der Eindruck ist auch, dass Eltern zwar Leistung erwarten und hohen Druck auf ihre Kinder ausüben, aber diese Erwartungen oft nicht erfüllt werden können. Ergo: Keine Zeit, keine Geduld für das Kind. Also muss die Leistung anderweitig hingebogen werden, denn das Kind/der Teen muss funktionieren. Der Schritt zur Medizin bzw. zu Psychopharmaka zu greifen, ist dann kurz. Wie kann der Jugend der positive Anreiz der Leistung vermittelt werden?
PS: Prinzipiell ist extrem wichtig: Psychopharmaka sollten immer nur das letzte Mittel der Wahl sein, die ultima ratio. Wir Psychotherapeuten haben hier mit dem klinischen Bereich eine wirklich gute Zusammenarbeit. Es gilt nicht ein ‚Entweder-Oder‘, also psychotherapeutischer Ansatz oder medikamentöse Betreuung durch die klinische Psychiatrie, sondern wir arbeiten Hand in Hand. Wie genau diese fallspezifische Betreuung aussieht, ist nur für den betreffenden Patienten/die Patientin zu beurteilen. Grundsätzlich gilt: so viel wie notwendig, so wenig wie möglich, wenn es um die Medikation geht. Wie gesagt, mit fachärztlicher Beratung, regelmäßiger Kontrolle und fallweise als Überbrückung einer schwierigen Zeit – also wenige Monate – können Psychopharmaka sehr hilfreich sein. Aber eben als ultima ratio.
IEF: Österreich lag schon vor Corona laut einer Studie der Österreichischen Sozialversicherungen bei den Arzneimittelausgaben im internationalen Spitzenfeld: In einem Vergleich mit 16 anderen Ländern lag Österreich mit 597 Euro an gesamten Arzneimittelausgaben pro Kopf weltweit an der vierten Position – nach Kanada, Australien und Deutschland. Nun wissen wir auch aus Ihren Studien im ÖBVP, unseren Recherchen am IEF, und auch Gesprächen mit Pharmakologen und Pharmazeuten, dass sich die Lage seit den Lockdowns und der Pandemie massiv verschlechtert hat, dass der Konsum verschreibungspflichtiger Medikamente – wie eben auch jene der Psychopharmaka – massiv angestiegen ist. Seit der Hausarzt Psychopharmaka verschreiben darf, werden über 70 % der Rezepte über diesen Weg verschrieben. Was empfehlen Sie besorgten Eltern zu beachten?
PS: Was nicht sein sollte, ist eine Art elterliches Verhalten im Sinne von ‚Schnell, schnell zum Hausarzt, damit das Kind die Pillen bekommt und dann wieder funktioniert‘. Wir wissen, dass hier ein Abgleiten aus der realen Welt passiert, dass Jugendliche in ihrer hormonellen Entwicklung anders empfinden und Frustrationstoleranz erlernen müssen, um mit der realen Welt der Erwachsenen zurecht zu kommen. Wenn schnell zum ‚Pillerl‘ gegriffen wird, erhöht das die Einsamkeit und die Suchtanfälligkeit im Erwachsenenalter ganz allgemein. Daher Vorsicht: Psychopharmaka wirklich nur zur Bewältigung einer akuten Krise, kurz und nur unter engmaschiger fachärztlicher Kontrolle und als letztes Mittel anstreben! Alle diese Medikamente haben verschiedene Wirkungen und Nebenwirkungen – an ‚Trial & Error‘ kommt man hier leider nicht vorbei. Daher ist bei Jugendlichen besondere Vorsicht geboten.
IEF: Wie sieht es denn mit einem Abrutschen in einen unerwünschten Zustand aus, wenn ein junger Mensch im hormonellen Wachstum schon Lustlosigkeit und Antriebslosigkeit in Allem empfindet und durch die Gabe von Antidepressiva vielleicht noch weniger – auch sexuelle – Lust empfindet. Kann es auch zu kontradiktorischen Wirkungen und der Entwicklung eines Teufelskreises kommen, aus dem ein Jugendlicher nur schwer rauskommen kann?
PS: Zu den Wirkungen von Psychopharmaka selbst sind natürlich die Fachärzte gefragt – sie müssen aber auch gefragt werden. Liebe Eltern, Ärzte geben gerne über alle Risiken, Nebenwirkungen und auch möglichen Auswirkungen auf den jugendlichen Körper – soweit man diese kennt – umfassend Auskunft. Als Psychotherapeut rufe ich wirklich dazu auf: Raus aus der Einsamkeit, hinaus mit den jungen Menschen, weg von den Bildschirmen und engagiert euch! Seid ehrenamtlich tätig, übernehmt Verantwortung und am besten engagiert euch in der Gemeinschaft! Viele, viele Vereine sind dankbar, auch in der Stadt, wie Sportvereine, Kulturvereine, das Jugendrotkreuz, die Feuerwehr, usw., wenn ihr euch hin traut! Das ist ein wichtiger Baustein für die gesunde, mentale und auch sexuelle Entwicklung – die Gemeinschaft!
IEF: Nun haben wir viel über die besorgniserregenden Tatsachen gesprochen, die die psychische Gesundheit der Jugend betreffen. Gibt es vonseiten der Politik Reaktionen?
PS: Unsere oben erwähnte ÖBVP-Studie hat – erfreulicherweise – sehr rasch zur Reaktion der Politik geführt. So wurden z.B. die Lehrer und Schulleiter im Burgenland durch Fortbildungen auf das Thema sensibilisiert. Ab September 2024 vereinbaren an Pilot-Schulen Beratungslehrer mit Schülern Ziele aus dem außerschulischen Interessensbereich der Kinder. Diese sollen die „Ich-Stärke“ der Jugendlichen in den Mittelpunkt stellen und neue Wege zum Selbstwerttraining der Teens – und damit des positiven Leistungsgedankens – gehen. Diese wichtige Lebenserfahrung, nämlich sich Ziele zu setzen, sich deren Erreichung zuzutrauen und es dann tatsächlich auch zu schaffen, soll ermöglicht werden. Es sollen Skills erkannt und gefestigt werden, die im schulischen Alltag nur eine untergeordnete Rolle spielen, die aber für die Bewältigung von Angststörungen, Identitätskonflikten oder Leistungsangst eine große Hilfe sein können.
IEF: Wie kann das konkret aussehen?
PS: Ein Beratungslehrer kann mit einem Schüler darüber sprechen, welche besonderen Interessen dieser außerschulisch hat. Wenn z.B. bei dem Jugendlichen Interesse an der Feuerwehr besteht, wird vereinbart, dass er innerhalb eines Jahres die Mitgliedschaft bei der Jugendfeuerwehr anstrebt und eine Basisausbildung schafft, z.B. das Jugendfeuerwehr-Abzeichen in Bronze. Dies muss zu einem festgelegten Zeitpunkt eingelöst werden. Das funktioniert auch mit allen anderen Skills, die ein Mensch haben kann: ein Instrument spielen, Fußball spielen, etc. Die Zielerreichung wird durch eine kleine Anerkennung belohnt! Für die Zukunft ist die Idee, dadurch eine ‚Erinnere-dich-Möglichkeit‘ zu schaffen, die bei passenden Gelegenheiten hilft, Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit und Problembewältigungskraft aufzubauen. Wie wir alle beim Radfahren das erste Mal ohne Stützräder fuhren und hörten ‚Du kannst das‘, so sollte diese Ermutigung in jeder Lebensphase des Jugendlichen gegeben werden. Also: „Erinnere dich doch, du hast das gekonnt, du schaffst das sicher bei den jetzt anstehenden Herausforderungen auch!“ So kann jede/r Jugendliche in seinem/ihrem außerschulischen Bereich Leistung bringen, die aber auch schulisch anerkannt wird – nicht benotet, aber anerkannt. Und das braucht die Jugend: Anerkennung!
Auch die Kirchliche Pädagogische Hochschule (KPH) Wien/Krems, die ebenso wie das IEF die ÖBVP-Studie gefördert bzw. verbreitet hat, stellt ihren Pädagoginnen und Pädagogen in Fortbildung diese Überlegungen vor und diskutiert die Integration dieser Strategien in den Unterricht.
Die erfolgreiche Umsetzung ermöglicht den Jugendlichen dann die hilfreiche Anwendung des Herrenwortes: ‚Erinnert Euch‘ – unzählige Bibelverse im Alten und im Neuen Testament bauen auf diesem ‚Erinnert Euch‘ als Ressourcen-Stärkung auf!
IEF: Tut die Politik hier genug?
PS: Mit dem Projekt ‚Gesund aus der Krise‘ ist einmal ein Abfedern gelungen, da auf diese Weise sehr schnell und unbürokratisch, kostenfrei, kinder- und jugendspezifische Psychotherapie und klinische Psychologie wohnortnahe zur Verfügung gestellt wird. Aber es muss natürlich mehr passieren. Eines ist klar: Die Politik darf nicht einfach den Generationenvertrag kündigen! Man hat oft den Eindruck, dass die Jugend diesen Vertrag nicht einhält. Aber so ist es nicht – die Politik hat dafür zu sorgen, dass mit Maß und Vernunft ein Gleichgewicht in den Sozialsystemen herrscht, um für die Zukunft der Jugend zu sorgen, damit diese auch ihren Part des Generationenvertrags erfüllen kann: Leistung erbringen und Familien gründen.
IEF: Haben Sie abschließend einen darüberhinausgehenden Tipp für Eltern, die sich um die gesunde Entwicklung ihrer Jugend Sorgen machen?
PS: Natürlich: ‚Positive thinking‘ ist gefragt! Ich empfehle allen Eltern die Bücher von Martin Seligman, wie ‚Flourish – Wie Menschen aufblühen‘. Und natürlich empfehle ich auch unser wichtigstes Buch: ‚Die Gute Nachricht‘!
IEF: Prof. Stippl, wir danken Ihnen sehr für dieses lebensbejahende Gespräch!
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