Lieben lernen in einer digitalisierten Welt – Teil 1

Behütete Kindheit

Lieben lernen in einer digitalisierten Welt – Teil 1

FIT 4 LOVE

Behütete Kindheit 6.0?

Mama, in der Klasse reden die Mädchen alle darüber, wie man Jungs eine blasen muss. Die finden das eigentlich selbst alle eklig, aber meinen, das müsse man machen, wenn man später mal einen Freund hat, weil man ihn sonst verliert.“

Das erzählte eine 13-jährige Gymnasiastin ihrer Mutter nach der Schule. Peinlich? Mag sein. Viel mehr aber ein Glücksfall offener Gesprächskultur, denn nur wenige Kinder reden mit ihren Eltern über solche sexuellen bzw. schambesetzten Erlebnisse in der Klasse oder im Internet.

Pornos? „Mein Junge schaut sowas nicht!“ glauben viele. Wirklich? Der Traum vieler Eltern von einer behüteten Kindheit inmitten einer digitalisierten Welt kann zum Bumerang werden, denn gerade das Tabu, über Pornografie zu reden, befördert den heimlichen Konsum. Mehr als 90 % der 13-16-jährigen Jungen und 44 % der Mädchen haben schon Pornoclips im Internet gesehen (Zürich, 2011), unter den 16-19-jährigen Jungen sind es fast alle (98 %), zwei Drittel konsumieren regelmäßig bzw. mehrmals die Woche. Neutral bleiben ist also – auch für Mädchen – unmöglich!

Normalisierung von Grenzverletzungen

Durch die ständige Verfügbarkeit des mobilen Internets sind Pornos nicht nur zum Aufklärer Nr. 1 geworden, sondern auch zu einer „Normalität“, die Phantasien, Wünsche und Erwartungen prägt und in Beziehungen eindringt. Ihren Normen unterwerfen sich zunehmend auch Mädchen und Frauen.

Als Psychotherapeutin für sexuell traumatisierte Menschen bin ich seit Jahren Zeuge davon, wie stark Pornokonsum sexuellen Missbrauch unter Kindern und Jugendlichen befördert, nicht selten auch unter Geschwistern. Zudem nimmt auch eine gefühllose, körperlich und psychisch verletzende Sexualität in jungen Paarbeziehungen zu. Aus Angst, alleine zu bleiben oder wieder verlassen zu werden, lassen sich viele junge Frauen auf Praktiken ein, die sie als demütigend, eklig oder sehr schmerzhaft erleben: „Wir wissen doch, was Jungs gesehen haben und was sie erwarten. Wenn wir das nicht mitmachen, sind wir doch selber schuld, wenn er sich ´ne andere sucht“.

 Zu wissen, dass fast alle Jungen und viele Mädchen Pornos schauen und normal finden, schafft ein Dilemma zwischen Bindungsbedürfnis und der Verletzung persönlicher Grenzen: Alleine bleiben oder mitmachen, obwohl es nicht stimmig ist?

Ambivalenz und Sprachlosigkeit

Wo es um intensive Gefühle und tiefere Bedürfnisse geht, greifen Appelle gewöhnlich zu kurz. Prävention von Pornokonsum und sexuellen Grenzverletzungen kann darum nicht allein durch Informationen über digitale Risiken und Appelle an die Selbstbestimmung (wie „Nein heisst Nein“) oder durch Appelle an mehr Liebe, Wertschätzung und Mitgefühl … erreicht werden. Es braucht ein tieferes Verständnis des Zusammenspiels von Identität, Bindung und Sexualität und ein Eingehen auf die Fragen, Wünsche und Ambivalenzen Jugendlicher.

Dazu braucht es zunächst einen Raum der Annahme und Offenheit, wo Fragen und Ambivalenzen gehört werden. Den ersten Schritt dazu sollten wir als Eltern oder Pädagogen tun, denn auch bei warmherziger und offener Gesprächskultur in der Familie fällt es Kindern und Jugendlichen gewöhnlich sehr schwer, über sexuell Erlebtes im Internet zu sprechen.

Neben der Scham und der Befürchtung, die Eltern könnten mit Empörung und Internetverbot reagieren, spielt die erlebte Ambivalenz eine große Rolle: Die sowohl überfordernden und schockierenden, vielfach brutalen, zugleich aber auch stark erregenden Bilder lösen meist ambivalente Gefühle aus: „Das ist eklig und macht mich doch an“, „Das ist brutal und ich muss es mir doch wieder und wieder anschauen“ sagen uns auch „behütete“ Jugendliche in Prävention und Beratung. Die langfristigen Folgen sind ihnen dabei meist nicht bewusst.

Tabea Freitag